Montag, 9. Juli 2012

Das (moralisch überlegene) Brot

"So und nach der Klassenfahrt hab ich noch was ganz besonderes für euch vorbereitet." verkündete unsere Lehrerin und die Spannung in der Klasse stieg. Jetzt wo Notenschluss war konnte das nur etwas gutes bedeuten.
"Undzwar schauen wir am Mittwoch einen Film!"
"Was für einen?" fragte es sofort aus der letzten reihe.
"Einen guten, Niveauvollen Film." grinste unsere Lehrerin. offenbar wollte sie sich alle Optionen offen halten.
"Batman!" freute sich der Junge, was die gesamte Klasse erheiterte.
"Ich sagte Niveauvoll."
"Ohh...dann...Spiderman!" verkündete der Held des Tages erneut lautstark was wiederum für Heiterkeit sorgte. Es gibt Tag da liebe ich meine Klasse... kam es mir in den Sinn. Und heute war definitiv einer dieser Tage.
"Ok! Aber bevor wir uns den Film ansehen, interpretieren wir erstmal eine Kurzgeschichte." Die eben gewonnene Aufmerksamkeit löste sich schlagartig in Luft auf. Bitte, bitte nicht wieder Trümmerliteratur! "Ein wundervolles Werk der Trümmerliteratur." Ach scheiß drauf! Ich hatte bereits bei der "Küchenuhr" von Borchert schlechte Erfahrungen mit dieser Literaturepoche gemacht. Mir waren diese Geschichte einfach zu verstörend, obwohl sie sicher den Zeitgeist und die Stimmung der Menschen einfingen.
"Ihr habt die Kopie schon vor euch liegen. Die Kurzgeschichte heißt "Das Brot"." Ich sah mich garnicht um, aber ich konnte schon hören das Anna lachen musste. Selbst unsere Lehrerin schaute mich mit einem seltsamen Blick an.
Brot...Brötchen... ja, selbst ein Blinder mit Krückstock sieht die Verbindung. Dachte ich leicht entnervt.
Doch dann begannen wir die Geschichte zu lesen...

Wolfgang Borchert: Das Brot


Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche.
Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hochkroch. Und sie sah von dem Teller weg.
"Ich dachte, hier wär was", sagte er und sah in der Küche umher.
"Ich habe auch was gehört", antwortete sie und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt.
"Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf dem kalten Fliesen. Du erkältest dich noch."

Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren.
"Ich dachte, hier wär was", sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, "ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wär was."
"Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts." Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. "Nein, es war wohl nichts", echote er unsicher. Sie kam ihm zu Hilfe: "Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen."
Er sah zum Fenster hin. "Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wär hier." Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. "Komm man", sagte sie und machte das Licht aus," das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer."
Sie tappten beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden.
"Wind ist ja", meinte er. "Wind war schon die ganze Nacht."
Als sie im Bett lagen, sagte sie: "Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne." "
Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne." Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre.
Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log.
"Es ist kalt", sagte sie und gähnte leise, "ich krieche unter die Decke. Gute Nacht."
"Nacht", antwortete er und noch: "ja, kalt ist es schon ganz schön."
Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und regelmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief.

Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.
"Du kannst ruhig vier essen", sagte sie und ging von der Lampe weg. "Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss du man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut."
Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.
"Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen", sagte er auf seinem Teller. "
Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man."
Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.


aus: Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Hamburg (Rowohlt) 1949.
"So, meine erste Frage ist: Wer ist in dieser Geschichte moralisch überlegen?" - "Das Brot!" rief jemand von Hinten.
Wenn jemand zum Leben schon fast zu wenig hat und davon noch ein Drittel an einen geliebten Menschen abgibt, dann ist das edelmütig. Dachte ich in Anbetracht der Tatsache das jeder Erwachsene damals nur 3 Scheiben Brot am Tag zur Verfügung hatte. Ich bewundere die Frau in der Geschichte. Es gibt nur wenige Menschen die so etwas tun würden.
Ob ich dazugehöre?
Das kann ich beim besten willen nicht sagen. Aber ich hoffe es.

Und versöhnte "Das Brot" mich mit der Trümmerliteratur.
Es war ein sehr schöner Tag, aber diese Geschichte geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Oder wie der meist gehasste Satz der Deutschlehrer sagt: Sie regt zum Nachdenken an.



Wusstest du, dass Teigwaren Teigwaren heißen, weil Teigwaren vorher Teig waren?

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